Irgendwie kein Maßstab - 1 zu 29
, von Friedhelm Weidelich
Hochinnovativ
Raucherzeuger mit einem Tank, motorisch angetriebene Lüfter unter dem Dach, angesetzte Messinggussteile und ein kolbengesteuerter pneumatischer Dampfausstoß. Dazu kam eine mehr oder weniger funktionierende Federung durch Schraubenfedern, eine Pendelachse in den zweiachsigen Drehgestellen der Lok, Beleuchtung, Öfen und Raucherzeuger in den Wagen und eine stabile Klauenkupplung, die durch einen Hebel von unten zu öffnen war und bei Unfällen zur Seite wegklappte. Die gegossenen Räder waren etwas rauer, die Gehäuse eher aus Polystyrol statt ABS und das Laufgeräusch nicht so leise wie bei LGB. Aber das war bei weit niedrigeren Preisen zu verschmerzen.
Ich habe das em-Heft von damals nicht griffbereit und weiß nicht mehr, ob mir gleich klar war, dass ich nun 1:29-Modelle besaß. Die um 10 Prozent aufgeblasenen Spur-1-Modelle faszinierten mich, auch weil der Importeur mir eine Geräuschelektronik vorgeführt hatte, die bereits ein Anlassgeräusch hatte – damals ein Novum, wenn auch nie in Serie gegangen. Bald lernte ich auf der Spielwarenmesse Lewis Polk kennen, den Geschäftsführer (= „president“) von Aristo-Craft. Die Modelle landeten etliche Jahre in Kartons, später tauchte ich über amerikanische Zeitschriften und das Internet tiefer in die amerikanische Eisenbahngeschichte ein.
Nenngröße 1,5
Beim Gartenbahn Profi kümmerte ich mich intensiv um die großen, schweren Loks und Wagen aus Nordamerika, importierte viele Modelle und freute mich, wenn ich nach tagelanger Recherche und Testfahrten einen ausführlichen Testbericht fertig hatte – Monate vor den Garden Railways, dessen Chefredakteur laufend seine mangelnden Kenntnisse von US-Bahnen dokumentierte und nicht einmal die ganz offensichtlichen acht Fehler an der Front einer LGB-Genesis entdeckt hatte. Dieses mit Anzeigen vollgestopfte Blatt nervte durch immer positive Besprechungen, für Anzeigenkunden natürlich. Bei dieser P42 DC war 2006 der Versuch eines Modells in drei variablen Maßstäben pro Koordinate gründlich misslungen und der Untergang von LGB nur noch eine Frage der Zeit. Ich habe für die modellmäßige Missgeburt damals den boshaften Begriff „Nenngröße 1,5“ eingeführt, der dann eine Weile in amerikanischen Foren als „gauge 1.5“ herumgeisterte.
Dagegen waren die 1:29-Modelle von Aristo-Craft und die oft feineren von USA Trains (siehe die S4 oben) eine Wohltat. Sogar schwere Schnellzugwagen und Kesselwagen aus Aluminium gab es da. Zwar fehlten bei der 45-mm-Spurweite 4,5 mm. Doch das nahm ich in Kauf angesichts 8,5 mm hoher, zu breiter (aber begehbarer) Schienenprofile und zu breiten Rädern. Von gelegentlichen Verkürzungen bei älteren Modellen abgesehen, war alles 1:29 und in sich stimmig. Bis auf die Spurweite, die durch zu breite Plastikwangen an den Drehgestellen gut kaschiert wurde,
Und so dehnte sich diese falsche Spur 1 in den USA immer weiter aus, während MTH mit echten 1:32-Modellen weitgehend erfolglos gegen die 1:29-Übermacht ankämpfte. MTH hatte schon vor zehn Jahren eine hochinnovative Digitalsteuerung DCS ohne antiquiertes CV-Wirrwarr, mit Klartextanzeigen (und nicht F-Tasten) und mit automatischer Anmeldung der Lok bei der funkfernsteuerbaren Zentralen, dazu beeindruckendem Sound und pulsierenden Raucherzeugern. Auch mein Freund und Kollege Russ Reinberg, der mit dem Finescale Modeller die anspruchsvollste Eisenbahn-Modellbauzeitschrift der Welt machte, hatte für 1:32 gekämpft und irgendwann aufgegeben.
Neben wenigen Kleinstserienherstellern sind nur MTH und Accucraft in der echten Spur 1 vertreten. Und weil sich 1:29 besser verkaufte, begann sich spät auch Accucraft mit der Marke AML in diesem Markt zu tummeln, der nun mangels Marktsättigung und Überalterung der meist im Garten aktiven Großbahner stagniert oder sogar schrumpft. Etliche angekündigte Lok-Projekte nahm AML wieder aus dem Programm, oft erst nach Jahren. Es scheint, als ob der Nicht-Maßstab 1:29 die besten Zeiten bereits hinter sich hat. Wer eigene Standards erfindet, muss sie auch im Markt gegen etablierte Standards (= Maßstäbe und "Nenngrößen") durchsetzen können.
Über Nat Polk, den Gründer von Aristo-Craft, streute das eigene Unternehmen, dass der 1:29-Maßstab das Ergebnis von 3 Mal 1:87 sei und irgendwie von kleineren Maßstäben in den USA abgeleitet war. In den USA war Lionel mit populären Null-Modellen das, was Märklin in Europa war: Marktführer. Der Enkel von Lewis Polk, der jetzt das Unternehmen leitet, hat den alten Webauftritt so gründlich gelöscht, dass selbst im Google-Cache nichts mehr zu finden ist. Dort hatte sich Nat Polk über dieses Thema ausgelassen.
Der Gegner war LGB
Geglaubt habe ich diese Geschichte nie, und wenn ich mich jedes Jahr in Nürnberg mit Lewis unterhielt, ging es immer um den „wow factor“ durch die beeindruckende Größe der eigenen Modelle. Ich bin sicher, dass Aristo LGB etwas entgegensetzen wollte. Denn erst in 1:29 erreichten amerikanische Güterwagen die LGB-Standardbreite von 11 cm und ließen sich zwischen den gestauchten LGB-US-Güterwagen einordnen.
Teure, fast ruinöse juristische Scharmützel zwischen LGB und Aristo wegen des Gleissystems belegen, dass genau diese deutsche Firma der Mitbewerber war, den Aristo-Craft mit innovativen und billigeren Modellen angreifen wollte. Was letztlich gelungen ist und in einem KO von LGB endete, von dem es bei Märklin aus vielerlei Gründen keine Erholung mehr geben dürfte. LGB hat seinen Glanz, nicht zuletzt durch Qualitätsmängel und die teilweise Produktion in China, längst verloren.
Die Fehlentscheidung
Auf der Spielwarenmesse 2005 kündigte Polk an, dass er für den britischen Aristo-Importeur Bachmann Europe eine Class 66 und passende Containerwagen bringen werde. Ich habe ihm damals dringend empfohlen, sie im Maßstab 1:32 zu bauen, weil sie dann zu den Güterwagen von Märklin und dem in Großbritannien ebenfalls gängigen Spur-1-Maßstab passen würde. Amerikaner leben aber in ihrer eigenen Welt und sind beratungsresistent, und so kam die Class 66, die ja bei der Kölner HGK und mittlerweile etlichen anderen europäischen Güterverkehrsunternehmen unterwegs ist, in 1:29. Eine marketingtechnische Dummheit und technische Fehlentscheidung, weil die Lok eine gewaltige Länge hat und sich mit Überhang durch Radien erst ab 120 cm fahren lässt. Weil das britische Lichtraumprofil so winzig und die Lok so geduckt ist, kann man bei einiger Kompromissbereitschaft mit Spur-1-Fahrzeugen einsetzen. Zehn Prozent zu groß ist sie trotzdem.
Ein Verkaufserfolg wurde die bärenstarke, mit vier Elektromotoren ausgestattete sechsachsige Lok nicht. Vereinzelt wird sie von Spur-1-Fahrern eingesetzt und war auch in Leipzig (siehe kleines Bild) mit den Aristo-Containerwagen unterwegs. Es waren die ersten und einzigen Wagen, die ich seit den Handmustern in Nürnberg je gesehen habe.
Wir haben auch mehrfach über deutsche Gartenbahn-Modelle gesprochen, Mr. Polk wollte aus den amerikanischen Dampfloks irgendwie deutsche Modelle machen und hatte sich Zeichungen im DB-Museum besorgt. Geworden ist daraus nichts, und ich wette, es wären 1:29-Fahrzeuge gewonnen, die zu nichts gepasst hätten. Ich schrieb es schon: Amerikaner sind meist beratungsresistent und sehen ihre "Leitkultur" als weltweit gültig an.
1:29 leidet bis heute darunter, dass es kein Zubehör gibt. Keine Autos, keine Gebäude, keine akzeptablen Figuren. Zwischendurch versuchte man es mit den wenigen amerikanischen 1:28-Lkws, um die Road Railer (erfolglos) zu vermarkten. 1:29 war eine Sackgasse.
Auch Piko verpasste eine Chance
In dieselbe Gasse geriet auch der sonst so instinktsichere Dr. Wilfer von Piko. Er adaptierte mit seiner Messeüberraschung, dem Taurus, die Dehn-, Streck- und Stauchstrategie der LGB-Regelspurmodelle und landete damit im Spielzeugmarkt von LGB, der sich kurz darauf aufzulösen begann. Heute profitiert er von den Lieferschwierigkeiten von Märklin-LGB, erreicht aber nur Spielbahner.
Hätte er die Modelle in 1:32 ausgeführt, könnte Piko heute mit preisgünstigen, einfachen Spur-1-Modellen nicht ausschließlich den Gartenbahnmarkt bedienen, wo Maßstäbe und korrekte Modelle bei den meisten Käufern nur eine untergeordnete Rolle spielen. Über ein paar günstige Güterwagen zum Verfeinern hätte sich mancher Spur-1-Fahrer gefreut. Aber vielleicht wollte Piko ja nicht, dass 1:32-Aufsteiger später zu Märklin wechseln. ;-)